Benedict Wells : Hard Land
Inhaltsangabe
Kritik
Die Familie
Der Schüler Samuel („Sam“) Turner lebt mit seinen Eltern Annie und Joseph in der Kleinstadt Grady in Missouri. Seit die Textilfabrik geschlossen wurde, sind viele arbeitslos, auch Sams Vater, und bei seiner Mutter, die in Grady eine Buchhandlung betreibt, wurde 1981 – vor vier Jahren – ein Gehirntumor diagnostiziert. Jean, Sams acht Jahre ältere Schwester, kriegt das nur aus der Ferne mit, denn sie lebt als Drehbuchautorin in Los Angeles.
Bei Sam handelt es sich um einen schüchternen Jungen, der von stärkeren wie zum Beispiel Chuck Bannister gemobbt wird. Sein einziger Freund, Steven („Stevie“) McCollister, zog im Herbst 1984 mit der Familie fort. Damit Sam in den Sommerferien 1985 nicht nur zu Hause herumsitzt, wollen ihn die Eltern zu seiner Tante Eileen nach Wichita/Kansas schicken, aber Sam denkt dabei sofort an seine Cousins Jimmy und Doug, die ihn bei einer früheren Begegnung schikanierten.
Der Ferienjob
Um nicht nach Wichita zu müssen, bewirbt sich Sam für einen Ferienjob im Kino Metropolis und wird vom Besitzer als Aushilfe eingestellt. Mr Andretti, dem auch ein Eiscafé und eine Autowerkstatt in Grady gehören, kündigt zugleich die Schließung des altmodischen Kinos zum Jahresende an.
Bei seiner Arbeit im Kino trifft Sam auf Kirstie Andretti, die Tochter des Betreibers, zu deren Clique auch Cameron Leithauser und Brandon Jameson gehören. Sie sind zwei Jahre älter als Sam, haben die Schule bereits abgeschlossen und werden Grady im Herbst verlassen, um zu studieren. Kirstie hat einen Studienplatz für Literatur in New York, Cameron soll auf Wunsch seines Vaters, eines Unternehmers, in Chicago Wirtschaft studieren, und Brandon – respektvoller Spitzname: Hightower – freut sich auf das Jura-Studium an der University of California in Los Angeles, zumal er dort wieder mit seiner Freundin Clara Palmer zusammen sein kann.
Sam verliebt sich in Kirstie, versucht es aber zu verbergen, um nicht ausgelacht zu werden. Kirstie hat bereits einen Freund und ist längst nicht mehr Jungfrau, im Gegensatz zu Sam, der noch kein Mädchen geküsst hat.
Nach anfänglichem Zögern nehmen Kirstie, Cameron und Hightower den Jüngeren in die Clique auf. Sie hängen im Kino oder bei „Larry’s“ herum, und Sam zieht erstmals an einem Joint.
Der Geburtstag
Zur Feier von Sams 16. Geburtstag verabreden die Eltern sich mit ihm um 20 Uhr in einem Restaurant.
Aber erst einmal trifft er sich mit seinen neuen Freunden, die ein besonderes Geburtstagsgeschenk für ihn haben: drei Prüfungen. Nachdem er sich dazu überreden ließ, in einem Laden einen Lippenstift zu stehlen, fahren sie mit Hightowers Pickup zur Selbstmordklippe. Kirstie fordert Sam auf, in den etwa 15 Meter tiefer liegenden Virgin Lake zu springen. Als er sich angsterfüllt dagegen wehrt, verspricht sie, mit ihm gemeinsam zu springen und zieht sich bis auf Slip und BH aus. Schließlich nimmt er sie bei der Hand und rennt mit ihr los, über die Klippe hinaus.
Nach dieser Mutprobe fühlt er sich so stark wie nie zuvor.
Als sie zurückfahren, ist es bereits nach 20 Uhr. Sam hat vergessen, in welchem Restaurant das Essen stattfinden sollte, und die Eltern sind gewiss schon dort. Statt mit ihnen feiert er also weiter mit den Freunden – und besteht auch die letzte Prüfung: Er trägt einen Song vor. Trotz seiner Schüchternheit kommt ihm das nach dem Sprung von der Selbstmordklippe ganz leicht vor.
Die Zäsur
Erst am nächsten Vormittag kehrt Sam nach Hause zurück – und erblickt schon von weitem einen Krankenwagen. Seine Mutter erlitt am frühen Morgen einen tödlichen Schlaganfall. Sie wurde nur 43 Jahre alt.
Sam fühlt sich elend, weil er die Eltern am Vorabend versetzte, und das am letzten Tag im Leben seiner Mutter.
Das Geburtstagsgeschenk der Eltern, eine lang ersehnte E-Gitarre, will er nicht mehr. Darüber kommt es zum Streit mit dem Vater, und plötzlich spürt Sam eine Ohrfeige. Zornig packt er ein paar Sachen zusammen, türmt durchs Fenster und versteckt sich in einer nicht mehr bewohnten Waldhütte.
Nachdem Kirstie ihn dort aufgespürt hat, kehrt sie in die Stadt zurück und bringt dann ein „Survival“-Paket mit: zwei Schlafsäcke, Proviant und einen Spirituskocher. Um ihn nicht allein zu lassen, bleibt sie auch nachts bei ihm.
Am nächsten Morgen kommt Jean zur Hütte. Wegen der Beerdigung ist sie aus Los Angeles angereist, und der Vater holte sie vom Flughafen in St. Louis ab. Kirstie unterrichtete Jean und Joseph Turner schon am Vorabend über Sams Versteck, bat sie aber, die Nacht abzuwarten.
Auf dem Weg zum Friedhof wird Sam von einem halb ausgetrunkenen Milkshake-Becher getroffen und besudelt. Chuck Bannister, der nichts von der bevorstehenden Beerdigung weiß, schaut aus dem Seitenfenster seines Autos und provoziert Sam mit dummen Sprüchen. Früher wäre Sam weitergegangen, aber jetzt tritt er den Außenspiegel des Wagens ab. Bannister steigt wütend aus und schlägt Sam zusammen.
Die Trauerfeier hat bereits begonnen, als Sam blutend und mit zerrissener Kleidung in die Kirche hinkt. Reverend Connors und die Gäste starren ihn an, als er sich neben seinen Vater in die erste Reihe setzt. Nach der Ansprache des Geistlichen steht Sam auf, holt die E-Gitarre hinter dem Altar hervor, die seine Schwester dort versteckte und fängt mit einem Rock-Song von Billy Idol an, den seine Mutter besonders gern hörte. Jean spielt dazu auf der Kirchenorgel. Reverend Connors will diesen Frevel beenden, aber Joseph Turner erhebt sich, geht zu ihm und bringt ihn dazu, sich zu setzen.
Hard Land
Im Herbst verlassen Kirstie, Cameron und Hightower den Ort. Sam besucht nun die vorletzte Klasse der Grady High und engagiert sich in der Theater-AG, obwohl er sich früher nie hätte vorstellen können, vor Zuschauern auf einer Bühne zu stehen.
Sein Vater übernimmt die verwaiste Buchhandlung und zieht mit Sam in eine kleinere Wohnung. Joseph Turner erzählt Sam, dass die Mutter und er zwar am Abend seines 16. Geburtstags zunächst verärgert waren, als er sie im Restaurant versetzte, aber dann freuten sie sich darüber, dass er endlich Freunde gefunden hatte.
Camerons Vater kauft „Larry’s“, finanziert die erforderliche Renovierung der alten Gaststätte – und überlässt den Betrieb seinem Sohn, der nicht zum Studieren nach Chicago gereist ist, sondern einige Wochen in Tokio verbracht hat.
Das Kino Metropolis schließt an Weihnachten für immer.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Über die Feiertage kommt auch Hightower nach Grady. Kirstie ist mit ihrem neuen Freund von New York nach London geflogen. Einige Zeit später erfährt Sam, dass Kirstie sich von dem Engländer getrennt hat, und in den folgenden Sommerferien, einen Monat vor seinem 17. Geburtstag, überrascht sie Sam mit einem Besuch. Zwei Wochen lang will sie in Grady bleiben.
Sie überredet ihn zu einem Bootsausflug auf dem Virgin Lake. Sie mieten einen Kahn, und Sam rudert mit Kirstie auf den See hinaus.
Dort spricht ihn Kirstie ihn auf den 1893 veröffentlichten Gedichtszyklus „Hard Land“ des aus Grady stammenden Dichters William J. Morris an, über den der Lehrer Parker seit 20 Jahren in der jeweiligen Abschlussklasse der Grady High einen Aufsatz schreiben lässt. Es ist legendär, dass Mr Parker ein einziges Mal dafür eine Bestnote vergeben hat, aber niemand weiß, welche Schülerin bzw. welcher Schüler sie bekam. Und nun eröffnet Kirstie ihrem Freund, dass sie es gewesen sei. Sie habe bisher als Einzige die Pointe von „Hard Land“ verstanden. William J. Morris beschäftigt sich in dem Gedichtszyklus mit allen Facetten des Erwachsenwerdens. Dazu gehört auch Sex, und weil er darüber in seiner Zeit nicht schreiben durfte, verkleidete er das Thema:
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)„Und so rege ich die Ruder, stets zum Neuen vor und zurück …
Bis hinaus über die Zeit, denn zurückkehren kann ich nur als Mann.“Und ich ruderte noch ein Stück, vor und zurück. Und dann schaute ich sie an, tief in ihre braungrünen Augen, und fragte mit leicht zitternder Stimme, wieso sie mir das alles eigentlich hier draußen in der Mitte des Sees gesagt habe, wo wir gerade wie die Figuren im Buch selbst in einem Boot saßen.
Doch Kirstie antwortete nicht.
Stattdessen nahm sie mir nun ganz langsam die Ruder aus den Händen und legte sie weg. Und dann nahm sie mir vorsichtig die Sonnenbrille aus dem Gesicht und legte sie ebenfalls weg.
Und dann schaute sie mich an und lächelte.
Unter „Hard Land“ versteht Benedict Wells die Jugend, die Adoleszenz, das Erwachsenwerden. Warmherzig und sensibel beschäftigt er sich am Beispiel eines schüchternen und unerfahrenen Jungen mit dem Thema. Erstaunlicherweise hat sich der 1984 in München geborene Schriftsteller in einen 1969 geborenen Amerikaner hineingedacht.
Dabei lässt Benedict Wells den anfangs 15, am Ende 17 Jahre alten Protagonisten in der Ich-Form auftreten. Dadurch erleben wir Sams Wechselbad der Gefühle, seine Ängste und seine Verletzlichkeit ganz nah. Wir erfahren auch nicht mehr, als Sam jeweils selbst begreift, und es gibt auch keine Kommentare oder Erläuterungen eines auktorialen Autors dazu. Um diese Erzählhaltung zu betonen, wendet sich Sam mehrmals direkt an uns, zum Beispiel hier:
Und nun komme ich zum Schluss der Geschichte, und endlich kann ich erzählen, was mir passiert ist. Ich weiß nicht, ob mir das wie anfangs Cameron niemand glaubt, denn es ist wirklich zu verrückt. Doch es ist passiert!
Gegliedert ist die Coming-of-Age-Story „Hard Land“ in fünf Teile: Die Wellen, Der Ball in der Luft, Die Prüfung, Der Streich, Die Pointe. Die 49 Kapitel korrespondieren mit den 49 Geheimnissen, die es angeblich in der Kleinstadt Grady in Missouri – dem Ort der Handlung – zu entdecken gilt, wobei es für jede Person andere sind.
Der erste Satz von „Hard Land“ lautet:
In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.
Auf Seite 285 zitiert Benedict Wells den legendär gewordenen ersten Satz des 1998 von Charles Simmons (1924 – 2017) veröffentlichten Romans „Salt Water“ / „Salzwasser“, der ihn offenbar dazu angeregt hat:
Im Sommer 1963 verliebte ich mich, und mein Vater ertrank.
„Hard Land“ ist überhaupt mit Querverweisen aus Literatur, Musik und Kino gespickt.
Bei „Hard Land“ handelt es sich um eine leichte, durchaus berührende Lektüre, die sich trotz trauriger und schmerzlicher Erfahrungen, die Sam durchstehen muss, dicht am Rand der unterhaltsamen Wohlfühl-Literatur bewegt. Auf jeden Fall ist „Hard Land“ ein einfühlsamer und ermutigender Roman.
Den Roman „Hard Land“ von Benedict Wells gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Robert Stadlober.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Diogenes Verlag
Benedict Wells: Fast genial
Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit